Sonntag, 25. Februar 2018

DEHNEN (STRETCHING) ?

Der Stand der Dehnforschung ist nicht so einfach darzulegen, da immer noch nicht alle Fragen geklärt sind.

1: Dehnen als Verletzungs- und “Muskelkater“prophylaxe

Beim Dehnen muss man unterscheiden zwischen kurzfristigen und langfristigen Effekten. Unmittelbar nach dem Dehnen steigt die Gelenkreichweite messbar. Dies ist aber vorwiegend auf eine höhere Dehnungsspannungstoleranz und nicht etwa auf bestimmte Veränderungen im Muskel zurückzuführen (siehe unten). Bei intensiven Dehnprozeduren kommt es zu enormen mechanischen Spannungen im Muskel, die alleine schon “Muskelkater“ (= DOMS: delayed onset muscle soreness) bewirken oder verstärken können. Zusätzlich konnten Untersuchungen zeigen, dass Schnellkraftleistungen unmittelbar nach statischem (also gehaltenem) Dehnen schlechter sind (und zudem ein DOMS provoziert wird).
 
Ein nicht allzu intensives dynamisches (z.B. “federndes“) Dehnen in der Übungsvorbereitung zur Vergrößerung der Flexibilität und zum Absenken der passiven Muskelspannung ist vertretbar. Intensives Dehnen sollte nur vor Trainingseinheiten und Wettkämpfen in Sportarten stattfinden, in denen die Beweglichkeit eine leistungsbestimmende Komponente darstellt, z.B. beim Turnen, Kampfsport (Karate, Taekwondo) oder Hürdenlauf. Aber auch hier sollte weniger statisch im Sinne des “Stretching“ als vielmehr dynamisch und sportartspezifisch gedehnt werden. Durch zweckmäßiges dynamisches Dehnen kann eine noch größere Beweglichkeit, sprich eine größere Gelenkreichweite, erreicht werden kann als durch “gehaltenes“ (= statisches) Dehnen.

Nicht nur vor, sondern erst recht nach einem Krafttraining (das nicht nur mit konzentrischer, sondern immer auch mit exzentrischer Muskelkontraktion einhergeht) sollte statisches Dehnen vermieden werden, da trainingsbedingte kleinste Verletzungen (Mikrotraumen innerhalb der Muskelfaser im Bereich der sog. Z-Linien bzw. Z-Scheiben aufgrund exzentrischer Muskelarbeit) verstärkt werden und somit ein Muskelkater (DOMS) provoziert bzw. verstärkt wird.

Es stellt sich die Frage, wann ein Dehnen bzw. Dehntraining “schädlich“ sein kann. Wenn man sehr intensiv und lange dehnt, kommt es zum Creeping-Phänomen und die Muskelstiffness nimmt ab. Dadurch ist eine gewisse Verletzungsgefahr gegeben.

Muskel-Stiffness (Muskelsteifigkeit): Sie bezieht sich auf die Härte des gesamten tenomuskulären Systems. Sie errechnet sich aus dem Verhältnis aus notwendiger Kraft und Längenzunahme bei Dehnung des Muskels. Interessant wird die Sache bei Reaktivkraftanforderungen, denn die Stiffness ist entscheidend, wenn es um die Speicherung und Wiedergewinnung von (kinetischer) Energie im Dehnungs-Verkürzungszyklus geht. Ursächlich sind an der Stiffness beteiligt: - Neurale Faktoren: Vorinnervation, Reflexinnervation - Viskoelastische Faktoren: Elastizität und Plastizität des Muskel-Sehnenkomplexes. Durch andauerndes Dehnen werden das Innervationsverhalten sowie die viskoelastischen Eigenschaften kurzfristig negativ beeinflusst, sodass die Stiffness abnimmt. Dadurch sind geringere Reaktivkraftleistungen und möglicherweise auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko zu erwarten.

Creeping-Phänomen: Das Creeping-Phänomen (Creeping-Effekt) beschreibt eine kurzfristige Längenveränderung des Muskels. Ihm liegt die Tatsache zugrunde, dass sich langsame Dehnungen anders auf das Bindegewebe auswirken als schnelle. Durch langsames und kontinuierliches Dehnen richten sich die Kollagenfibrillen, die im ungedehnten Zustand nicht linear zu der in Zugrichtung wirkenden Kraft orientiert sind, in Zugrichtung aus. Dadurch kommt es zu einer temporären echten Längenzunahme des Muskels. Dieser Effekt hält auch nach der Dehnung noch eine Zeit lang an. Dadurch geht nicht nur die Fähigkeit verloren, kinetische Energie im kontraktilen Apparat zu speichern, sondern auch, diesen vor Überdehnung zu schützen. Die Verschlechterung der Schnellkraftleistung sowie die Entstehung von “Muskelkater“ (DOMS) nach intensivem Stretching sind dadurch erklärbar.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Dehnen (v.a. statisches = Stretching) unmittelbar vor sportlichen Leistungen nicht vor Verletzungen schützt, sondern sie eher sogar begünstigt. Ebenso verhindert Dehnen keinen “Muskelkater“ (DOMS), sondern begünstigt ihn, vor allem, wenn unmittelbar nach dem Sport (v.a. Sportarten, die mit exzentrischer Muskelarbeit einhergehen) statisch gedehnt wird. Stretching alleine kann bereits “Muskelkater“ bewirken. Die muskuläre Regeneration wird durch Stretching generell eher behindert als gefördert.

2: “Muskelverkürzung“

Die Vorstellung, ein Muskel würde sich verkürzen, wenn er nicht gedehnt wird, mag zwar plausibel sein, sie ist jedoch definitiv falsch. Die strukturelle Länge eines Muskels per se ist immer gleich, denn eine Veränderung der Anzahl und Länge der Sarkomere in Serienschaltung konnte beim Menschen bisher nicht nachgewiesen werden. Eine Veränderung der Muskellänge findet nur bei einer Kontraktion statt (konzentrisch oder exzentrisch) und ist reversibel, denn unmittelbar nach Entspannung des Muskel nimmt er wieder seine ursprüngliche Länge ein. Ansonsten kann die Länge eines Muskel nicht nachhaltig verändert werden, weder in die eine noch in die andere Richtung. Die kontraktilen Elemente des Muskels sind auch nicht elastisch, sondern lediglich die serienelastischen (z.B. Sehnen) und parallelelastischen (z.B. Faszien) Strukturen, die die kontraktilen Fasern umgeben. Das einzige elastische Element innerhalb der Muskelfaser sind die Titin-Filamente (neben Aktin und Myosin die dritte Art von Filamenten), die die Myosin-Filamente an den Z-Scheiben fixieren. Im Ruhezustand und bei Muskeldehnung üben die Titinfilamente eine Zugkraft auf die Z-Scheiben aus, bei konzentrischer Kontraktion tun das die Aktinfilamente. Der Muskel kann also an den Z-Scheiben nicht unterscheiden, ob er kontrahiert oder gedehnt wird. Auf wiederholt starke Zugkraft an den Z-Scheiben reagiert der Muskel als Schutz vor Überlastung mit der Bildung neuer paralleler, d.h. strukturell nicht längenwirksamer Sarkomere. Dieses “Muskelwachstum“ im Sinne einer Hypertrophie durch Vergrößerung des Muskelquerschnitts bedeutet nicht nur eine Zunahme der Muskelkraft, sondern auch eine Zunahme der Muskelruhespannung durch Zuwachs an Titin-Filamenten. Eine Neubildung von Sarkomeren in Serienschaltung und damit eine echte Längenzunahme des Muskels kann beim Menschen durch Dehnen nicht induziert werden. Abgesehen davon wäre das auch nicht zweckmäßig, da Ursprung und Ansatz eines Muskels gleich bleiben und bei echter, also struktureller Längenzunahme des Muskels dieser dann quasi wie ein schlaffes Band zwischen Ursprung und Ansatz “durchhängen“ würde. Auch die elastischen Titin-Filamente werden durch Dehnen nicht nachhaltig verlängert (Ein Gummiband nimmt nach Beenden seiner Dehnung ja auch wieder seine Ausgangslänge ein).

Eine “Verkürzung“ wird üblicherweise im Rahmen eines Muskelfunktionstests festgestellt und dabei so gut wie immer fälschlicherweise als strukturelle, also echte Längenverkürzung des Muskels vermittelt. Es wird daraufhin in der Regel empfohlen, den entsprechenden Muskel zu dehnen (wobei Dehnen generell so gut wie immer mit Stretching gleichgesetzt wird, sprich mit dem “gehaltenen“ Dehnen mittels statischer Übungen) um die “Verkürzung“ zu beheben. Diese vermeintliche “Muskelverkürzung“ ist aber nichts anderes als eine eingeschränkte Flexibilität bzw. Dehnfähigkeit. Es besteht eine verminderte Toleranz gegenüber einer Dehnungsspannung - und so sollte man es auch bezeichnen und erklären. Eine wirkliche, sprich strukturelle Verkürzung eines Muskels besteht dabei nicht.

Das Fehlverständnis einer “verkürzten“ Muskulatur, die man deswegen dehnen müsse, wird nicht nur von vielen einschlägigen Büchern und Trainern, sondern - leider - erfahrungsgemäß auch immer wieder von Leuten, die es besser wissen sollten, nämlich Orthopäden und Physiotherapeuten transportiert. Bei Haltungsschäden bzw. einem Ungleichgewicht der Kräfte, die auf ein Gelenk einwirken, ist die Seite mit der größeren Muskel-Ruhespannung die scheinbar “kürzere“. Mit einem ausgiebigem Stretching des vermeintlich “verkürzten“ Muskels würde man dessen Ruhespannung nur noch weiter erhöhen (siehe oben). Eine größere Gelenkreichweite bei unveränderter Muskellänge bedeutet entgegen der landläufigen Vorstellungen, dass die Resistenz gegen den Dehnungsschmerz größer ist, also die Schmerzschwelle, an der eine Dehnung als unerträglich empfunden wird, höher liegt. Diese Schutzschwelle kann durch Gewöhnung mittels regelmäßigen Dehntrainings in einen Bereich höherer Belastung verschoben werden, also auch in einen Bereich größerer Verletzungsgefahr (durch das Creeping-Phänomen und die Abnahme der Muskel-stiffness siehe oben).

Eine Muskelverkürzung ist funktionell zu betrachten. Die Maximalkraft, die ein Muskel entfaltet, hängt unter anderem (Stichwort “intramuskuläre Koordination“) vom Überlappungsgrad der Aktin- und Myosinfilamente und damit von der Winkelstellung des betroffenen Gelenkes ab. Wenn ein Muskel seine optimale Kraftentfaltung in einem kleineren Winkel hat, als er sollte bzw. es für die beabsichtigte Sportart oder Belastungsform zweckmäßig ist, kann man von einer “Verkürzung“ sprechen. Mit Dehnen lässt sich weder die “funktionelle Länge“ eines Muskels beeinflussen noch eine funktionelle Muskelverkürzung beheben. Angezeigt ist dann vielmehr, den Muskel über eine möglichst große Bewegungsamplitude (ROM: range of motion) arbeiten zu lassen. Gleichzeitig sollte man den Antagonisten des vermeintlich “verkürzten“ Muskels kräftigen, indem man ihn ebenfalls über einen größtmöglichen ROM arbeiten lässt, damit wieder ein Gleichgewicht in der Kraft und in der Ruhespannung auf beiden Seiten (Agonist - Antagonist) hergestellt und somit eine muskuläre Dysbalance behoben wird.

Durch Dehnen wird der Muskel nicht strukturell länger (auch nicht “schlanker“, wie vor allem in der Damenwelt vielfach erhofft wird), dennoch kann die Beweglichkeit erhöht werden. Das ist der eigentliche Sinn und Zweck eines Dehnens, das durchaus als eigene Trainingseinheit betrachtet werden kann und soll. In der Prävention und Rehabilitation sowie in beweglichkeitsdeterminierten Sportarten wie Gerätturnen und rhythmische Sportgymnastik, aber auch Kampfsport oder Hürdenlauf ist das ein wichtiges Argument für ein regelmäßiges Dehnen, wobei ein dynamisches Dehnen mit funktionellen Bewegungen über einen größtmöglichen ROM dem statischen (“gehaltenen“) Dehnen, also dem klassischen “Stretching“, vorzuziehen ist, weil es nachgewiesenermaßen effizienter ist und das statische Stretching, wie bereits erwähnt, mit gewissen Nachteilen verbunden sein kann.

Zusammenfassung

Beim Dehnen, insbesondere beim Stretching, gibt es eine Spannung auf die Muskulatur. Ist die Spannung hoch, kann damit theoretisch sogar ein hypertrophiewirksamer Reiz erzielt werden. Nach intensivem Ausdauertraining (v.a. Laufen), bei dem es auch zu kleinsten Verletzungen (Mikrotraumen durch exzentrische Belastung) im Muskel kommt, ist Dehnen als zusätzliche mechanische Beanspruchung nicht angebracht. Damit würde ein DOMS verstärkt und die muskuläre Regeneration verzögert werden. Es braucht auch kein Dehnen vor einem “normalen“ Dauerlauf, ein “Einlaufen“ zum “Warmwerden“ genügt. Ebenso wenig sollte unmittelbar vor und nach einem Krafttraining gedehnt werden (wie bereits erklärt, siehe oben: Einerseits Herabsetzung der Schnellkraftleistung, andererseits Provokation eines DOMS). Wer vor allem bewusst exzentrisches Krafttraining oder IK-Training (Training der intramuskulären Koordination) macht, sollte Dehnübungen auf einen anderen Tag verschieben. Im Gesundheitssport sind die Beanspruchungen geringer. Meistens nehmen sich die Leute nur an zwei oder höchstens drei Tagen Zeit für‘s Training und verbinden damit in der Regel auch das Dehntraining. Dennoch ist es allgemein ratsam, ein dynamisches Dehnen dem statischen Dehnen, also dem typischen “Stretching“, vorzuziehen, weil es zweckmäßiger ist (Stichwort “Zweckgymnastik“). Statisches Dehnen hat, insgesamt betrachtet, mehr Nach- als Vorteile.

Das Wichtigste
 
  • Im Gesundheitssport ist Dehnen wichtig und sollte deshalb regelmäßig durchgeführt werden, um die Beweglichkeit zu erhalten bzw. zu steigern (Darin liegt der Sinn und Zweck des Dehnens), Stichwort “Zweckgymnastik“. Im Leistungssport ist sportartspezifisch ein vorbereitendes Dehnen notwendig. Als Methode ist dynamisches Dehnen zweckmäßiger als statisches Dehnen.
  • Muskuläre Dysbalancen und “Verkürzungen“ können mit Dehnen nicht korrigiert werden. Hiefür ist eine Kräftigung der Antagonisten sowie allgemein ein Krafttraining mit großen Bewegungsreichweiten angezeigt. Zweckmäßig durchgeführtes Krafttraining steigert auch die Beweglichkeit. 
  • Eine Verletzungsprophylaxe durch Muskeldehnung ist nicht möglich, auch ein “Muskelkater“ (DOMS) kann damit nicht verhindert werden, vielmehr wird er damit provoziert. Wer exzentrisch oder mit sehr hohen Bewegungsgeschwindigkeiten oder Lasten trainiert, sollte nicht unmittelbar vor und nach dem Training dehnen, sondern sich ein eigenes Dehntraining einrichten. 
  • Ein allgemeines Aufwärmen von einigen Minuten vor Beginn eines Trainings bzw. Wettkampfs ist immer empfehlenswert. Ein Dehnen hat mit “Aufwärmen“ nichts zu tun. Ein “Aufwärmen“ der Arbeitsmuskulatur vor jedweder körperlichen Belastung bzw. Trainingseinheit ist zweifellos zweckmäßig: Eine Aktivierung des Herz-Kreislaufsystems von einigen Minuten mittels mäßig-intensiver Ausdauerbelastung (zyklisch-dynamische Muskelarbeit, die mindestens ein Sechstel der gesamten Skelettmuskulatur involviert) steigert das HMV (Herzminutenvolumen) und damit auch die Durchblutung der Muskulatur, was sich positiv auf deren Leistungsbereitschaft auswirkt.